Schachlegende wäre heute 90

  23.03.2021 Sport

Seine Flucht aus der Sowjetunion sorgte weltweit für Aufsehen. Viktor Kortschnoi landete Ende der 70er-Jahre im Freiamt und wurde heimisch. Die Schachlegende ist die wohl berühmteste Persönlichkeit, die jemals in Wohlen lebte. Diese Zeitung blickt zurück auf sein filmreifes Leben. --spr


Der Löwe von Leningrad

Das Leben von Viktor Kortschnoi

Er war kein Wunderkind, wurde aber ein Wundersenior. Mit 80 Jahren spielte er Weltmeisterschaften und war damit der älteste Leistungssportler der Welt. In seiner Karriere und seinem Leben gibt es viele Höhe- und Tiefpunkte. Kortschnoi, Ehrenbürger von Wohlen, ist der beste Schachspieler aller Zeiten, der nie Weltmeister wurde.

Stefan Sprenger

Viktor Kortschnoi wird am 23. März 1931 in Leningrad als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Seine Eltern trennten sich früh und er wuchs bei seiner Stiefmutter auf. Sie war es auch, die ihm half, die Blockade Leningrads zu überleben. Im Zweiten Weltkrieg belagerte die Deutsche Wehrmacht die Stadt und wollte die Bewohner aushungern. Die Blockade dauerte von September 1941 bis Januar 1944 und kostete über einer Millionen Menschen das Leben – die meisten davon waren verhungert. Viktor Kortschnoi verlor während des Krieges fast seine ganze Familie. Auch sein Vater, von dem er das Schachspielen im Alter von sieben Jahren lernte, verstarb.

Die Flucht aus der Sowjetunion

1943 wurde Kortschnoi, der eigentlich Schauspieler werden wollte, Mitglied im Schachklub des Leningrader Pionierpalastes. 1947 und 1948 wurde er Jugendmeister der Sowjetunion. Er studierte sechs Jahre lang Geschichte und schloss 1954 mit dem Universitäts-Diplom ab. 1956 wurde er internationaler Schachgrossmeister. Es folgt seine erste Blütezeit. 1956, 1960, 1962, 1964 und 1970 wurde er Landesmeister der Sowjetunion. Er siegte an vielen Turnieren, wurde aber nie Weltmeister. So erhielt er den Titel des besten Schachspielers, der nie Weltmeister wurde. Sein kompromissloser Stil brachte Kortschnoi die Spitznamen «Der Löwe von Leningrad» oder «Viktor der Schreckliche» ein.

Lebensgefährliche Äusserungen

Kortschnoi äusserte sich immer wieder kritisch gegenüber der Sowjetunion. Etwas, was zu jener Zeit lebensgefährlich war. Erst recht, wenn man wie er als berühmter Schachspieler im Rampenlicht stand. Kortschnoi war das egal. Doch so politisch, wie die Flucht von beiden Seiten immer wieder dargestellt wurde, war es nur bedingt. Kortschnoi wollte in erster Linie nur etwas: Frei Schach spielen.

Anlässlich eines internationalen Turniers in Amsterdam floh er im Jahr 1976 in den Westen. Es war eine Flucht, die weltweit Aufsehen erregte. Zunächst hielt er sich in den Niederlanden, dann – ab 1978 – in der Schweiz auf, für die er seitdem bei Turnieren antrat. Die UdSSR rief 1976 zum Boykott auf von allen Turnieren, wo Kortschnoi dabei ist. 1978 wird im die Staatsbürgerschaft entzogen.

Kortschnoi gegen Karpow und die ganze Sowjetunion

Nach der Flucht folgte seine zweite grosse Erfolgsphase. In den Kandidatenkämpfen rang er alle Widersacher nieder, am liebsten die sowjetischen, darunter auch in einem intensiven Psychokrieg seinen früheren Freund Boris Spassky.

Legendär sind seine Duelle 1978 und 1981 gegen Anatoli Karpow, der als linientreu in der Sowjetunion galt. Der Kampf um die Weltmeisterschaft im Jahr 1978 auf den Philippinen war viel mehr als nur ein Schachspiel.

Die Stimmung war politisch aufgeheizt. Auf der Seite Karpows standen das gesamte russische Schach-Establishment und die Sowjetunion, auf Kortschnois Seite stand Kortschnoi. Kortschnoi verlor. Erwähnenswert: Er bewies dabei seinen unermüdlichen Kampfgeist. Sieger war, wer als Erstes sechs Partien gewinnt. Kortschnoi holte dabei innert vier Partien gegen den 20 Jahre jüngeren Karpow einen Drei-Punkte-Rückstand auf und verlor das Match erst nach 32 Partien. Hätte Kortschnoi den WM-Kampf gewonnen, so hätte der KGB ihn umgebracht, hat Michail Tal, einer von Karpows Sekundanten, später behauptet.

Er nahm praktisch jede Einladung an

Am Kandidatenturnier 1980 bezwang Kortschnoi wie bereits drei Jahre zuvor Petrosjan und Polugajewski, sowie im Final den Westdeutschen Robert Hübner und erkämpfte sich so erneut das Herausforderungsrecht gegen Weltmeister Karpow. Auch diese WM-Neuauflage – im Herbst 1981 in Meran ausgetragen – verlor Kortschnoi, als er sich diesmal nach 18 Partien sechsmal geschlagen geben musste (bei zwei Siegen). Dieses Duell wurde ebenfalls auf der ganzen Welt mitverfolgt – und sorgte für viel Diskussionsstoff.

Kortschnoi blieb weiter als Turnierspieler aktiv und nahm auch mit fortschreitendem Alter praktisch jede Einladung an. Auf die Frage, warum er das machte, lautete seine Antwort: «Wenn ich die Einladung nicht akzeptiere, dann werde ich das nächste Mal nicht mehr eingeladen.»

Michael Gorbatschow wollte ihm  die Staatsbürgerschaft geben

1991 hat Michael Gorbatschow, der letzte sowjetische Präsident, ihm vorgeschlagen, wieder russischer Bürger zu werden. Kortschnoi lehnte ab, wurde 1992 Schweizer Bürger und erhielt 1991 die Ehrenbürgerschaft seines Wohnortes Wohlen.

Bei seinen weiteren Teilnahmen an diversen WM-Vorausscheidungen kam Kortschnoi nicht mehr über die ersten Qualifikationsrunden hinaus. Jedoch nahm Kortschnoi trotz seines fortgeschrittenen Alters weiterhin erfolgreich an hochklassigen Schachturnieren teil. Auch wenn er mit zunehmendem Alter etwas schwächer wurde in seinem Spiel, so blieb Viktor Kortschnoi an der erweiterten Weltspitze dran. Nachdem er sich lange geweigert hatte, in speziellen Seniorenwettbewerben anzutreten, wurde er bei seiner ersten Teilnahme im Jahr 2006 auf Anhieb Seniorenweltmeister. 2011 gewann er beim Open in Gibraltar gegen Fabiano Caruana, was ebenfalls für Aufsehen sorgte. «Opa beisst noch», meinte er jedes Mal, wenn er einen jüngeren Spieler schlug.

Die höchste Elo-Zahl aller Zeiten

Aber er war einfach nicht mehr so gut wie früher, auch wenn kaum ein Spieler der Schachgeschichte im Alter so stark gewesen ist wie Kortschnoi. Er hält mit fast 5000 dokumentierten Partien bis heute den Rekord für die meisten gespielten Schachpartien. Laut dem US-amerikanischen Mathematiker Jeff Sonas besass er zwischen September und Dezember 1965 die höchste historische Elo-Zahl aller in jenem Zeitraum aktiven Schachspieler. Kortschnois beste FIDE-Elo-Zahl betrug 2695 (zwischen 1979 und 1981).

Darüber hinaus nahm er ab 1960 an 17 Schacholympiaden teil, sechsmal für die UdSSR und elfmal für die Schweiz. Auch das ist Rekord. In der Schweizer Nationalliga A spielte Kortschnoi bis 2012 für die Schachgesellschaft Zürich, mit der er 1999, 2002, 2003, 2005, 2008, 2009 und 2010 Schweizer Mannschaftsmeister wurde. Die Schweizer Landesmeisterschaft gewann er fünfmal: 1982, 1984, 1985, 2009 und 2011.

Filme, Dokumentationen, Bücher

Viktor Kortschnoi schrieb mehrere Schachbücher. Auch andere Autoren widmeten ihm ein Buch. Dazu gibt es mehrere Dokumentationen und Filme über seine Kämpfe und sein Leben. Zu den beiden legendären WM-Kämpfen gegen Karpow gibt es neben einigen Büchern auch – seit wenigen Jahren – den Film «Closing Gambit».

Viktor Kortschnoi, noch mit 80 Jahren spielte er Meisterschaften mit und war damit der älteste Leistungssportler der Welt. Wohl kaum jemand hat so lange auf so starkem Niveau gespielt wie er. Seine Leidenschaft für diesen Sport war gigantisch.

Am 6. Juni 2016 starb Viktor Kortschnoi in Wohlen, seiner neuen Heimat. Er war eine riesige Schachpersönlichkeit mit Ecken und Kanten. Die wohl berühmteste Persönlichkeit, die jemals in Wohlen lebte. Dieser Mann hat die Geschichte des Schachs nicht nur mitgeprägt, er ist Schachgeschichte.


Am Geburtstag verstorben

Sie war 40 Jahre an der Seite der Schachlegende: Letzte Woche stirbt Petra Kortschnoi mit 93 Jahren

Petra Kortschnoi war die Frau an Viktor Kortschnois Seite. Nach der Flucht aus der Sowjetunion in den Westen unterstützte sie ihn mit voller Kraft und war die einzige Verbündete bei seinen Kämpfen gegen die UdSSR. Vor einer Woche starb sie an ihrem Geburtstag, im Alter von 93 Jahren.

Wo Viktor Kortschnoi war, ist auch seine Frau Petra nicht weit. In einem Interview mit dieser Zeitung im Jahr 2011 erzählt sie, wie sie «ihren» Viktor kennenlernte. Kortschnoi trat kurz nach seiner Flucht aus der Sowjetunion 1976 bei einem Simultanturnier in Holland an, spielte gegen mehrere Spieler.

Im Arbeitslager in Sibirien

Petra machte an diesem Turnier auch mit. Nur, damit sie Viktor Kortschnoi kennenlernen konnte. Als Köder – um auf sich aufmerksam zu machen – legte sie ein russisches Buch auf den Tisch. Der Titel des Buches: «Auferstehung.» Kortschnoi biss an, die beiden wurden ein Paar. 1978 zieht es die beiden nach Wohlen. Dies, weil Petra bereits im Freiamt lebte.

Ursprünglich stammt sie aus Leipzig. Als junge Frau gehörte sie nach dem Krieg in der DDR einem Kreis christlicher Studenten an, deren Aktivitäten den Behörden ein Dorn im Auge waren. Als Petra Leeuwerik Wien besuchte, damals noch in Besatzungszonen geteilt, wurde sie von sowjetischen Agenten in die sowjetische Zone verschleppt und wegen Spionage zu zehn Jahren Arbeitslager in Sibirien verurteilt. Aus dieser Zeit brachte sie intensive und negative Gefühle mit. Als sie von der Flucht von Viktor Kortschnoi aus der Sowjetunion hörte, dachte sie, dass sie ihn mit ihrer Energie unterstützen müsste. Gesagt, getan.

In einem Interview mit dem Deutschen Schachbund sagte Petra, die damals noch Leeuwerik hiess (nach ihrem ersten Ehemann): «Als ich in der Presse las, dass er sich anlässlich eines Turniers in Amsterdam abgesetzt hatte, dachte ich, dieser Mann braucht Hilfe. Und ich kann Ihnen versichern, er brauchte sie.»

Sie wurde von den Sowjets gefürchtet

Sie ist für Viktor Kortschnoi eine enorme Unterstützung. Und – auch wenn Viktor Kortschnoi das Lob der westlichen Presse einheimste, wenn er wieder mal gegen die Sowjetunion auf die Hinterbeine stand, so war seine Frau Petra hinter den Kulissen genauso stark involviert. Sie wurde von den sowjetischen Offiziellen durch ihre unermüdlichen Forderungen nach korrekter Behandlung stets gefürchtet. Als Delegationsleiterin des Kortschnoi-Teams nahm sie den Kampf mit den Organisatoren und sowjetischen Offziellen auf und hielt ihrem Schützling den Rücken frei. Viktor Kortschnoi konnte sich ganz auf seine Partien konzentrieren. 1983 beendeten die Sowjetbehörden den Boykott gegen Kortschnoi. Er konnte nun wieder überall Turniere spielen. Von da an war bei seinen Spielen oftmals das gleiche Bild zu beobachten: Er duellierte sich stundenlang mit seinen Gegnern am Schachbrett, während Petra im Publikum sass und genüsslich ein Buch las. Die eindrückliche Frau, die Kraft für zwei hatte, musste nun nicht mehr kämpfen.

Gemeinsam im Casa Güpf

Am 21. Mai 1999 heiraten sie. Von 1978 bis 2012 lebt das Paar am Allmendweg in Wohlen. Von 2012 bis zum Tod wohnen sie im Casa Güpf, wo sich die Kortschnois stets wohlfühlten. Nach Kortschnois Schlaganfall im Jahr 2012 war sie auch seine Pflegerin. Übrigens: Auch Petra spielte Schach, vorzugsweise im Internet. Viktor Kortschnoi interessierte sich für die schachlichen Bemühungen seiner Frau allerdings nicht im Geringsten.

Anfang März sagt das Casa Güpf auf Anfrage, dass Petra Kortschnoi seit Längerem nicht mehr ansprechbar sei. Vor wenigen Tagen, am 15. März, stirbt Leopoldine Petronella Kortschnoi, geborene Hajny. Sie starb an ihrem 93. Geburtstag. --spr


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