Ein filmreifes Leben

  23.03.2021 Sport

Redaktor Stefan Sprenger über Wohlens berühmteste Persönlichkeit: Schachlegende Viktor Kortschnoi würde heute 90 Jahre alt

Die Ausnahmeerscheinung Viktor Kortschnoi wäre heute, am 23. März, 90 Jahre alt geworden. Er war nicht nur eine Schachlegende, sondern auch menschlich ein Unikat. Sportredaktor Stefan Sprenger erlebte dies bei jedem Treffen mit Kortschnoi. Und dies bestätigt auch jemand, der es wissen muss: sein einziger Sohn Igor.

Stefan Sprenger

«Spielst du Schach?» Die erste Frage im Interview stellt Viktor Kortschnoi. Es ist ein kühler März-Tag im Jahr 2011, kurz vor seinem 80. Geburtstag. «Nein, leider nicht. Wollen Sie es mir beibringen?», sage ich. Er ignoriert meine Frage. Viktor Kortschnoi hat zuvor noch voller Vorfreude seine Schachfiguren auf die Felder manövriert und auf ein Spiel mit mir spekuliert. Jetzt packt er Läufer, Turm und König wieder ein – und wirkt dabei ein wenig beleidigt. Für ihn unverständlich, dass es Menschen gibt, die keine Ahnung vom Schach haben.

Was ist das für ein Typ, der sich mit der Sowjetunion anlegt?

Zusammengefasst ist Viktor Kortschnoi einer der grössten Schachspieler aller Zeiten. «Viktor der Schreckliche» wird er von seinen Gegnern genannt. Mich fasziniert aber auch immer der Mensch hinter dieser Schachlegende. Was ist das für ein Typ, der sich furchtlos mit der knallharten Regierung der Sowjetunion anlegt?

Sein Charakter war – sagen wir mal – besonders. Er hat Sinn für schwarzen Humor, zeigt sich manchmal unerbittlich, manchmal sogar sanftmütig. Mit seiner sturen Art und seinen ungefilterten Worten sorgt er viele Male für Aufsehen. Schwierig wird es, wenn sein enormer Ehrgeiz sich paart mit einer Niederlage im Schach. Hier ein passendes Beispiel: Anfang der 90er-Jahre duelliert er sich öfters mit Viswanathan Anand, einem indischen Schach-Grossmeister. Anand ist an der Weltspitze angekommen und rund 40 Jahre jünger als Kortschnoi. Obwohl der Inder ein Dutzend Partien gegen Kortschnoi gewinnt – ohne dabei auch nur einmal zu verlieren – äussert sich Kortschnoi stets abfällig über den Gegner. Sieger Anand beklagt, dass Verlierer Kortschnoi ihm nach jedem Spiel sagt, dass er keine Ahnung vom Schach habe. Es war Kortschnois unbändiger Siegeswille, seine Sturheit und wohl auch Eifersucht, die ihn zu solchen Aussagen trieben. Und ab und an ist er auch einsichtig. Die starken Leistungen des Inders in den 2000er-Jahren haben Kortschnoi gezwungen, am Ende einer der grössten Fans von Anand zu werden.

Überfordert nach dem ersten Treffen

An jenem März-Tag im Jahr 2011 rede ich fast drei Stunden mit Kortschnoi und kehre mit über 20 Seiten voller Notizen zurück auf die Redaktion. Die meisten davon drehen sich um Schach. Denn egal welches Thema man mit ihm besprechen will, am Ende landet man immer beim Schach. Zu den Notizen gesellen sich unzählige Informationen aus dem Internet. Googelt man seinen Namen auf Russisch (Korchnoi), erhält man 141 000 Ergebnisse. Ich bin total überfordert angesichts dieser Ausnahmeerscheinung und seiner filmreifen Lebensgeschichte. Kortschnoi war ein eigenwilliger Mensch, der eine Zeit lang der König des Schachs war.

Zum Gespräch lädt er mich in sein Zuhause ein. Zweiter Stock, Allmendweg, Wohlen. Hier lebt er seit vier Jahrzehnten an der gleichen Adresse. Die Wohnung ist schlicht eingerichtet. Er sitzt auf einem Ledersofa, ich sitze auf einem Ledersofa. Daneben steht ein kleines Tischchen mit vielen Wodkaflaschen. Das antike Holzregal ist gefüllt mit Schachbüchern. Und in der ganzen Wohnung stehen Pokale. Er spricht im Interview offen, ist gut drauf. Von Distanz keine Spur. Er mag es, im Rampenlicht zu stehen. An jenem Tag sagt er auch den Satz: «Wenn ich auf hören würde mit Schach, kann ich gleich auf den Friedhof gehen.»

«Er hat bestimmt noch andere Kinder auf dieser Welt»

Ich erzähle diese Anekdote seinem Sohn Igor Kortschnoi. Er lacht. «Das klingt nach meinem Vater.» Igor ist das einzige Kind von Viktor Kortschnoi. «Das glaube ich nicht. Er hat bestimmt noch andere Kinder auf dieser Welt. Mein Vater mochte die Frauen, und die Frauen mochten ihn. Aber noch mehr liebte er das Schach», sagt er. Igor Kortschnoi spricht direkt, mit einer Prise Humor und erfrischender Ehrlichkeit – genau wie sein Vater. Igor Kortschnoi lebt heute in Lausanne, ist 62 Jahre alt, von Beruf Informatiker, verheiratet und Vater eines Sohnes. Ich telefonierte mit ihm vor wenigen Wochen, fast eine Stunde lang. Auf Englisch. Nach dem Tod von Kortschnois Frau ist dieser Mensch die erste Anlaufstelle, um mehr über die Schachlegende zu erfahren.

Das Verhältnis von Igor Kortschnoi zu seinem Vater war diffus. «Eine menschliche Beziehung mit meinem Vater war schwierig. Es war wie auf einem Minenfeld», sagt sein Sohn und ergänzt: «Wenn es verschiedene Möglichkeiten gab, mit einer bestimmten Situation umzugehen, dann wählte mein Vater immer den Weg des grössten Konflikts.» Über zehn Jahre haben sie nicht miteinander geredet. «Er hatte einen sehr speziellen Charakter. Ich muss es wissen, ich habe auch davon geerbt.» Ende der 90er-Jahre raufen sie sich zusammen, reden wieder miteinander. Von da an besucht Sohn Igor seinen Vater ein- bis zweimal pro Jahr in Wohlen.

Wo ist Kortschnoi?

Szenenwechsel: Poststrasse in Zürich. 23. März 2011. Der Tag, an dem Viktor Kortschnoi 80 Jahre alt wird. Im Hotel Savoy sind nur zwei Journalisten dabei. Ein Schreiber des wichtigsten Schachmagazins «Chessbase» – und ich. Viktor Kortschnoi will das explizit so. Schach und sein neues Zuhause in Wohlen, diese Dinge sind ihm wichtig. An diesem Abend sind viele illustre Gäste aus der Schachwelt dabei. Die Gespräche drehen sich ausschliesslich um das Spiel der Könige. Und während der «Chessbase»-Journalist alle Anwesenden zu kennen scheint, erkenne ich lediglich das Gesicht des wohl berühmtesten Schachspielers aller Zeiten: Weltmeister Garri Kasparow.

Um 18.15 Uhr beginnt der Apéro. Alle sind schon da, nur Kortschnoi fehlt. Auch um 19 Uhr keine Spur vom Geburtstagskind. Der Chef des Gala-Dinners im Hotel Savoy wird immer nervöser und schickt einen Laufburschen auf das Zimmer von Kortschnoi.

Garri Kasparow: «Ehrensache»

Wenige Minuten später erscheint der Star des Abends, schnappt sich ein Cüpli-Glas, tut so, als ob nichts gewesen wäre, und blickt freudig umher. Kortschnoi wirkt müde. Vermutlich hat er zuvor ein Nickerchen gemacht. Der Grund: Am Nachmittag spielt er noch ein Simultanturnier gegen eine Juniorenauswahl.

Er gewinnt acht von zehn Partien. Lachend, mit dem nächsten Cüpli-Glas in der Hand, spricht er lange mit Garri Kasparow. Ich fotografiere sie beim Gespräch. Auch Kasparow ist wie Kortschnoi ein Oppositioneller in Russland und deshalb misstrauisch. Mehrmals fragt er bei Kortschnoi nach, wer der Typ mit der Kamera ist. «Keine Sorge», meint Kortschnoi. Ein Zitat von Kasparow gibt es trotzdem nicht. Er sagt mir nur einen Satz: «Viktor und seine Frau gehören zur Familie, Ehrensache, dass ich komme.»

Er kommt in die Schweiz, sein Sohn in den Knast

Ehrensache. Das ist für Viktor Kortschnoi auch seine neue Heimat Wohlen. 1976 flüchtet er in den Westen, kommt wenig später in die Schweiz, an den Allmendweg nach Wohlen. Dies, weil seine spätere Frau Petra bereits im Freiamt lebt. Kortschnoi erzählt mir von seiner Flucht aus der Sowjetunion. Zuvor hatte er sich immer wieder kritisch über die Regierung geäussert. Es ist eine Geschichte wie aus einem Thriller. Er sagt über seine Flucht: «Ich wurde damals als Feind und Verräter hingestellt. Ich musste fliehen, sonst wäre ich in Sibirien gelandet. Heute wissen die Menschen in Russland nicht mehr, was Freiheit bedeutet.»

In jenem Jahr, als Viktor Kortschnoi nach Wohlen zügelt, wird sein Sohn Igor ins Militär einberufen. Als er sich weigert und zu fliehen versucht, kommt er für zwei Jahre hinter Gitter. «Ich war im Gefängnis und im Konzentrationslager. Der Geheimdienst KGB behielt unsere Familie immer im Auge», sagt Igor Kortschnoi, der in den 80er-Jahren gemeinsam mit seiner Mutter die Sowjetunion verlässt.

«Mein Lieblingsort in Wohlen ist das Postamt»

März 2013. Mein letztes Erlebnis mit Viktor Kortschnoi. Im Casa Güpf, wo er mittlerweile lebt, darf er einen Apfelbaum pflanzen. Kortschnoi trinkt drei Gläser Champagner, isst zwei Stück Kuchen und äussert sich enorm positiv über «sein» Wohlen. Hier, wo er 1991 zum Ehrenbürger ernannt wurde. Hier, wo sein neues Zuhause ist. «Ich bin ein Wohler und mein Lieblingsort ist das Postamt», sagt er lachend. Bei der Baumpflanzung kommen geladene Gäste. Kortschnoi, sichtlich gezeichnet von seinem Schlaganfall ein Jahr zuvor, erzählt von einem Bronzekopf. Ein deutscher Künstler zaubert Kortschnois Kopf in Bronze. Das Schach-Museum in Hamburg fragt an, ob es das Stück haben dürfe. Darauf Kortschnoi: «Wenn dieser Bronzekopf irgendwo hingehört, dann hierher nach Wohlen. Mein neues Zuhause.» Russland blieb seine Heimat, aber vieles im Land hakte er im hohen Alter ab. Sein Sohn Igor meint: «Wohlen war seine Heimat. Das sagte er immer wieder. Und ich glaube, die Leute in Wohlen schätzen ihn sehr.»

Kortschnoi genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Ruhm und Ehre. Als es darum ging, den Apfelbaum im Casa Güpf zu pflanzen, und Kortschnoi – im Rollstuhl sitzend – nach der Schaufel greift, wird es ruhig. Er lädt sich etwas Erde auf, wirft sie ins Pflanzloch, dann blickt er um sich und durchbricht die Stille mit den Worten: «Ist das eine Beerdigung hier? Wo bleibt der Kanonenschuss?» Alle lachen.

2012 erleidet Viktor Kortschnoi einen Schlaganfall, landet im Rollstuhl. In jener Zeit muss er seine Wohnung am Allmendweg verlassen und zieht ins Casa Güpf. «Er wollte nicht weg von seinem Zuhause und hat sich gewehrt», erzählt sein Sohn. Ein Altersheim war für Kortschnoi wie «ein Wartesaal auf den Tod», wie er mir einmal nachdenklich erzählt. Nicht immer ist er stur. Denn: Als er ins Casa Güpf einzieht, gefällt es ihm.

Immer wieder pilgern Schachliebhaber ins Casa Güpf, um mit Kortschnoi eine Partie zu spielen. In den letzten Monaten vor seinem Tod war dieser aber nicht mehr in der Lage, Schach zu spielen. «Er war todunglücklich. Es war die Hölle für ihn. Sein Leben hatte keinen Sinn mehr», sagt sein Sohn. Der Titel von Viktor Kortschnois Autobiografie lautet passenderweise: «Schach ist mein Leben». Und ohne Schach kein Leben.

Seine letzten Tage

Früher war dies ein wenig anders. Kortschnoi konnte nächtelang durchtanzen, spielte gerne Karten, war begeisterter Skifahrer, interessierte sich für Geschichte, Politik und Literatur. Im hohen Alter kennt er nur noch Schach. Als ihm dies genommen wurde, war das Leben sinnlos.

Am 6. Juni 2016 stirbt Viktor Kortschnoi. Wenige Tage davor wird er ins Spital eingeliefert. «Er hatte innere Blutungen», so sein Sohn, der ihn im Spital besuchte. «Wir gingen draussen spazieren. Er sagte mir mehrmals vehement, dass er zurück nach Wohlen will. Immer wieder: ‹Ich will zurück nach Wohlen.›» Kortschnoi blieb stur und man brachte ihn zurück ins Casa Güpf. Dort verstarb er. Mit 85 Jahren. 70 davon spielte er Schach auf höchstem Niveau. Sein Grab ist auf dem Friedhof in Wohlen.

Als in Russland die Meldung vom Ableben Kortschnois die Runde macht, heisst es im Land, ein Held sei verstorben. «Mein Vater wollte eigentlich einfach nur Schach spielen. Wegen seines Charakters konnte er es sich nicht verkneifen, sich politisch zu äussern. Das brachte ihm – und der ganzen Familie – viele Probleme», erzählt sein Sohn. Böse ist er ihm deswegen nicht. «Er war eben so.»

Im März 2011 sagt Viktor Kortschnoi zu mir: «Wenn ein Schachspieler stirbt, gibt es Erinnerungsturniere für ihn. Ich hoffe, sie machen das auch für meinen Namen.» Das Weltklasseturnier «Zurich Chess Challenge» hat zu Ehren von Viktor Kortschnoi den Namen in «Korchnoi Zurich Chess Challenge» umbenannt. Er hätte sich gefreut.

Es wäre mir eine gigantische Ehre gewesen

Vor wenigen Tagen erzählt mir meine Frau, dass sie dabei war, als Viktor Kortschnoi in den 90er-Jahren an der Schule in Villmergen gegen die Schüler ein Simultanturnier spielte – und dabei enorm lebensfreudig und auch ehrgeizig auftrat. Selbst dafür war er sich nicht zu schade. Hauptsache Schach.

«Spielst du Schach?», fragt mich Viktor Kortschnoi bei unserem Treffen im Jahr 2011. Damals musste ich ihn enttäuschen. Vor wenigen Jahren beginne ich aber – auch dank Kortschnoi – mit dem Schachspielen. Könnte ich doch nur die Zeit zurückdrehen. Viktor Kortschnoi, einer der grössten Schachspieler aller Zeiten, würde Läufer, Turm und König mit Präzision auf die Schachbrett-Felder manövrieren. Er würde sanft lächeln, wenn er den ersten Zug macht, und er würde bereits wissen, wie er mich schlägt. Und mir wäre diese Niederlage eine gigantische Ehre gewesen.


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