Für viele Menschen ein Vorbild

  09.02.2021 Wohlen

Ruth Weber-Michel hat sich vor 50 Jahren stark für das Frauenstimmrecht eingesetzt

Sie war vielfach die erste Frau. Ob damals als Lehrtochter in der Hypothekarbank oder später als Schulpflegerin und Präsidentin. Und sie trat vor 50 Jahren an vielen Podien auf, um für das Frauenstimmrecht zu kämpfen. «Diese grosse Ungerechtigkeit musste verschwinden», sagt Ruth Weber-Michel heute.

Chregi Hansen

Am 7. Februar 1971, vor 50 Jahren also, war es so weit, sagten die Schweizer Männer Ja zum Frauenstimmrecht. «Es war ein wichtiger Schritt», schaut Ruth Weber-Michel auf diesen Tag zurück, «aber es waren noch viele weitere nötig.»

Die gebürtige Wohlerin war viele Jahre lang eine Kämpferin. Heute ist sie 92-jährig und lebt im Bifang. Mit dem Alter verblassen auch die Erinnerungen. Vom Abstimmungskampf vor 50 Jahren weiss sie keine Details mehr – zu lange ist es her. Geblieben ist aber das Gefühl, dass den Frauen früher unrecht getan wurde. «Dass wir Frauen nicht die gleichen Rechte haben, das hat mich schon immer gestört. Wir sind doch genau gleich viel wert wie die Männer», sagt sie noch heute mit Überzeugung. Und dabei leuchten ihre Augen.

Anfeindungen haben sie nicht aus dem Tritt gebracht

In allen Regionen der Schweiz brauchte es damals Frauen, die vorangingen und den Weg ebneten für andere. In Wohlen war dies in erster Linie Ruth Weber-Michel. «Meine Mutter hat den Weg frei geschaufelt für ein selbstverständliches gleichberechtigtes Miteinander zwischen Mann und Frau. Sie zeigte Mut und Grösse, mit Anfeindungen hielt sie sich nicht lange auf. Und sie war nicht nur uns Kindern, sondern vielen Menschen ein grosses Vorbild», sagt denn auch Tochter Agnes Weber, die später selber politische Karriere machte und es bis in den Nationalrat schaffte.

Tatsächlich liess sich Ruth Weber-Michel nicht aufhalten auf ihrem Weg. So war sie beispielsweise die erste junge Frau, die auf der Hypothekarbank eine Lehre machen durfte. «Darauf war ich sehr stolz», sagt sie. Für die Bank war das eine ungewöhnliche Situation, gab es doch nicht mal eine Frauentoilette im Gebäude. Nach der Lehre war sie als Buchhalterin in der Cellpack tätig. Nach der Hochzeit mit Robert Weber folgte sie ihm beruflich ins Ausland. Zwischen 1951 und 1964 kamen neun Kinder zur Welt.

Hätten sich andere Frauen in dieser Situation auf die Familie konzentriert, so blieb Ruth Weber aktiv. Bereits 1960 wurde sie in die Schulpflege gewählt. Frauen waren damals auf kommunaler Ebene wählbar, durften aber selber nicht an die Urne. «Die Begeisterung über ihre Wahl war riesig», erinnert sich Tochter Agnes. In der Behörde selber war die Freude weniger gross. «Zu Beginn hatten wir Frauen nicht viel zu sagen», erinnert sich die Kämpferin für die Frauenrechte. «Man gab ihr in der Schulpflege die Ämter, die den Männern angemessen erschienen, so war sie für die Hauswirtschafts- und Handarbeitskommission zuständig», ergänzt Sohn Andreas Weber. Doch sie liess sich dadurch nicht entmutigen. Sie baute später unter anderem die Heilpädagogik auf, stellte Lehrpersonen ein und betreute sie.

Ihr Weg führte bis in den Verfassungsrat

Für sie war immer klar, dass Frauen die gleichen Rechte verdienen wie die Männer. «Es war schon eine spezielle Zeit», schaut sie auf die 60er-Jahre zurück. Und kann es heute noch nicht verstehen, dass auch viele Frauen damals das Stimmrecht überhaupt nicht wollten. Woher ihr eigenes Engagement für die politischen Rechte kam, kann sie selber nicht erklären. «Ich habe immer viel gelesen, mich immer für Politik interessiert. Und mir war immer klar, dass es für die Benachteiligung der Frauen keine Gründe gab. Wir Frauen können das Gleiche schaffen wie die Männer», ist sie heute noch überzeugt. Und ging selbst mit gutem Beispiel voran, ebnete anderen den Weg.

So war sie nicht nur die erste Schulpflegerin, sondern wurde später auch deren Präsidentin. Sie wurde in den Bezirksschulrat, den Einwohnerrat und in den Verfassungsrat gewählt. An Letzteren hat sie besonders gute Erinnerungen. «Da konnte ich mich einbringen, wurde gehört und konnte wichtige Arbeit leisten. In diesem Gremium wurden Grundlagen gelegt für das heutige politische System», sagt sie.

Frau der klaren Worte

Dafür nominiert und auch gewählt zu werden, das sei ihr eine Ehre gewesen, sagt Ruth Weber-Michel. Franz Wille, damals Vizepräsident der CVP-CSP, erinnert sich noch gut an diese Zeit. «Eigentlich sollte erst ihr Mann Robert kandidieren. Aber schliesslich fiel die Wahl auf sie», sagt er. Ruth Weber-Michel sei bei den Leuten gut angekommen. «Sie redete in einer klaren Sprache. Und was sie sagte, hatte Hand und Fuss», so Wille weiter. Das bestätigt auch Tochter Agnes Weber. «Sie sprach frei, witzig und kam auf den Punkt», erinnert sie sich an damalige politische Veranstaltungen. Allerdings wurde nicht immer auf sie gehört. «Frauen mussten sich damals den Respekt der Männer und der anderen Frauen mit überdurchschnittlicher Sachkompetenz und guter Rhetorik erst erkämpfen», weiss die frühere Nationalrätin.

Zwar waren Frauen in der Politik vor 50 Jahren noch eine Ausnahme, doch für die neun Kinder war es normal, dass ihre Mutter oft unterwegs war. Das war möglich, weil sich der Grossvater intensiv um die Kinderschar gekümmert hat. «Eigentlich war das schon eine Form der umgekehrten Emanzipation», sagt Sohn Andreas Weber heute. Dass ihre Mutter oft in der Zeitung abgebildet war oder an Anlässen Reden hielt, das war für Andreas und Agnes Weber bald schon normal. Ruth Weber selber ging weiter ihren Weg. Sie setzte sich ein für Bildung, Chancengleichheit, Menschenrechte, Soziales. Aber auch der Erhalt historischer Gebäude war ihr sehr wichtig. Sie engagierte sich als Ortsbürgerin, im Verein Dorf kern und im Verein Ortsmuseum. «Ich nahm meine Mutter wahr als unglaublich gut organisiert und effizient», so Tochter Agnes.

Sie hat vielen Mut gemacht

Und natürlich kämpfte sie an der vordersten Front für ein Ja zum Frauenstimmrecht, war an mehreren Podien in der Region aktiv. Und war überzeugt, dass es ein Ja gibt. «Ich spürte, dass die Zeit reif ist», sagt sie heute. An den Tag selber hat sie kaum noch Erinnerungen. «Es ist alles schon so lange her», entschuldigt sie sich. Agnes Weber weiss aber noch, dass ihre Mutter an einer Feier ihrer Partei war, der Christlich-Sozialen. «Da gab es viele fortschrittliche Frauen und Männer, die in Wohlen einen wichtigen politischen Einfluss hatten», so die Tochter.

Sie selber hat die Zeit im Januar 1971 noch immer in bester Erinnerung. «Meine Mutter griff mit ihrer grossen Erfahrung selbstbewusst in den Abstimmungskampf um das Frauenstimmrecht ein», erklärt sie. «Hatte sie doch gezeigt, wie kompetent Frauen Politik machen. Sie vertrat die Ansicht, dass Frauen die gleichen politischen Rechte zustehen wie den Männern. Ohne Wenn und Aber.» Für Ruth Weber-Michel war das Ja vom 7. Februar ein wichtiges Zeichen. Aber es habe noch lange gebraucht für eine wirkliche Gleichberechtigung. «Die Zahl der Frauen in den politischen Ämtern nimmt zwar zu, aber wir sind noch nicht am Ziel», sagt sie heute. Das sieht Agnes Weber ähnlich. «Als ich 1995 für die SP zur ersten Nationalrätin Wohlens gewählt wurde, hatte ich noch mit den gleichen Vorurteilen zu kämpfen wie meine Mutter in ihrer Zeit», schaut sie zurück.

Ruth Weber-Michel hat lange gekämpft. Jetzt, im Alter, muss sie es ruhiger nehmen, geblieben ist ihr Stolz über das Erreichte. «Es brauchte Frauen, die vorangingen. In Wohlen war es eben ich», sagt sie. So einfach kann es manchmal sein.


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